Aus einem Tagebuch …

EttyHillesum“Mir kann man nicht so leicht Angst machen. Nicht weil ich tapfer wäre, sondern weil ich weiß, dass ich es mit menschlichen Wesen zu tun habe und dass ich so intensiv wie möglich versuchen muss, alles, was ein jeder jemals tut, zu verstehen. Und darum ging es genau heute morgen: Es war nicht wichtig, dass ich von einem missmutigen Gestapo-Offizier angeschrien wurde, sondern dass ich darüber keine Entrüstung empfand und statt dessen echtes Mitgefühl mit ihm hatte. Ich hätte ihn gerne gefragt: “Hatten Sie eine sehr unglückliche Kindheit, hat Ihre Freundin Sie im Stich gelassen?” Ja, er sah mitgenommen und angespannt aus, finster und dünnhäutig. Am liebsten hätte ich ihn gleich in psychologische Behandlung genommen, denn ich weiß, dass solche bedauernswerten jungen Männer gefährlich werden, wenn man sie auf die Menschheit loslässt.”

Etty Hillesum (1914-1943), aus ihrem Buch “Das denkende Herz – Die Tagebücher der Etty Hillesum 1941-1943